Charles Schmid nach seinem dritten Ausbruchversuch
Foto: Polizei
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„Hey, come on, babe, follow me
I’m the Pied Piper, follow me
I’m the Pied Piper
And I’ll show you where it’s at.“
The Pied Piper, Song von 1963
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Richard Shelton war ein junger Englischprofessor an der Tucson University of Arizona, als er 1970 einen Brief bekam. Ein junger Gefängnisinsasse bat ihn darin, seine Gedichte und andere lyrischen Werke zu beurteilen, die er in Gefangenschaft verfasst hatte. Shelton weigerte sich zunächst, doch da der Gefangene in der Todeszelle saß, erbarmte er sich und las.
„Ich war fasziniert“, sagte Shelton 2007 in einem Interview, „weil das ein solch talentierter und berührender Autor war – und gleichzeitig eben auch ein Monster.“
Shelton startete eine über 32-Jahre währende Zusammenarbeit mit Gefangenen, die begonnen hatten, im Gefängnis von Tucson Gedichte zu schreiben. Viele seiner Studierenden saßen „on Death Row“, einige wurden nach Ablauf der Gefängniszeit oder nach ihrer Begnadigung freigelassen. Manche seiner ehemaligen Studenten begannen in Freiheit sogar eine Karriere als erfolgreiche Autoren.
Sheltons erster Student, der Briefschreiber von 1970, war auch gleichzeitig der erste (und einzige) seiner Studenten, der ermordet wurde – allerdings nicht von staatlich beauftragten Henkern.
Am 30. März 1975 starb Charles Schmid an 20 Stichwunden, die ihm zwei Mitgefangene zehn Tage zuvor zugefügt hatten. Auch ein Auge, das ihm die Mörder bei lebendigem Leib herauszuschneiden versuchten, hatte er in den Tagen seiner Leidenszeit verloren. Seit er die Bestätigung hatte, er sei ein begnadeter Dichter, wandelte Schmid stolz wie ein Pfau durchs Gefängnis und ließ jeden seine Überlegenheit spüren. Die zwei Gefangenen, die ihn umbrachten, wurden nie zur Verantwortung gezogen.
Schmids Adoptiveltern veranlassten, dass ihr Sohn auf dem Gefängnisfriedhof begraben wurde.
Nachdem er Shelton kontaktiert hatte, saß Schmid noch ein paar Monate in der Todeszelle. 1971 wurde die Todesstrafe in Arizona vorübergehend abgeschafft, auch Schmids Strafe wurde in einen 50-jährigen Freiheitsentzug umgewandelt. Ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung.
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Wenn es nach Schmid gegangen wäre, wäre er bereits am 17. Juni 1966 hingerichtet worden. Er war die vielen Prozesstage Leid, er fühlte sich im und außerhalb des Gerichtsaales vorverurteilt. Dazu ärgerte es ihn, dass es seinen Starverteidigern nicht gelungen war, ihn freizubekommen, obwohl er den achtstündigen Test mit einem Lügendetektor bravurös bestanden hatte. Dennoch wurde irgendwann die Todesstrafe gegen ihn verhängt, trotzdem es nur die beiden Leichen der Schwestern gab, keine Beweise und viele widersprüchliche Zeugenaussagen. Auch Bruns hatte sich oft widersprochen. Zwar hatte er die Polizisten zu den Leichen der beiden Schwestern geführt, die er selbst verbuddelt hatte. Alleen Rowes Skelett blieb jedoch unauffindbar, obwohl Bruns schwor, er wisse, wo es wäre.
Schmids Hinrichtung war für den 17. Juni vorgesehen. Schmid stimmte zu. Er wäre gerne als Märtyrer gestorben – vergast vom Staat Arizona, der ihm drei Morde nicht nachzuweisen konnte. Nur, weil Schmid sich im Gerichtsall lustig gemacht hatte, indem er den Richtern und der Polizei ihre eigene Unfähigkeit vorhielt, unfähig, herauszufinden, was mit Alleen Rowe geschehen war, sagte man den Hinrichtungstermin wieder ab.
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Als ich in Nogales, Mexiko, ankomme, bin ich fröhlich. Zwar dröhnt mein Kopf, ich schwitze ein wenig, aber es macht mir nichts aus. Ich fühle mich lebendig und frei zu tun, was ich will.
Es ist Abend und immer noch heiß. Die Stadt Nogales ist absurd: Ein Teil gehört zu den USA, ein anderer zu Mexiko. Separiert ist der eine vom anderen Teil durch einen hohen Stacheldrahtzaun. Ich muss dabei an den Libanon denken, auch Palästina stelle ich mir streckenweise auf die gleiche Art geteilt vor. Die Kirche, in der Schmid und Diane sich vermählten, schenke ich mir. Auch das Restaurant, in dem sie feierten, will ich nicht sehen.
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Im Wiederaufnahmeverfahren gegen Schmid wegen Mordes an Rowe sagte auch Richie Bruns wieder aus. Nachdem er in den Zeugenstand getreten war, schaute er kurz zu Schmid. Doch Bruns hielt dessen giftigen Blick nicht aus und senkte seine Augen. Schmid rief ihm zu, er wisse, warum er das tue.
Bruns zitterte, er war in keiner guten Verfassung.
Ein paar Monate zuvor hatte er Morddrohungen erhalten, weil er Schmid angeblich verraten hatte. Dabei war es nicht er gewesen, der den Polizisten in Ohio erzählt hatte, wer die Mädchen umgebracht hatte. Sondern seine Großmutter. Sie hatte auch veranlasst, dass die Polizei in Tucson ihren völlig verzweifelten Enkel nur einen Tag nach seiner Ankunft in ihrem Haus wieder nach Tucson zurückflog. Dort schließlich war er endgültig zusammengebrochen und hatte ein Geständnis abgelegt: Er sei mitschuldig am Tod der beiden Schwestern, an dem von Alleen Rowe und an dem eines kleinen, namenlosen Jungen.
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Schmid wusste, dass er keine Chance hatte. Weder auf einen fairen Prozess, die Öffentlichkeit war mittlerweile dermaßen gegen ihn und sein arrogantes Auftreten eingenommen, dass auch der letzte Rest an Objektivität verloren gegangen war. Noch hatte er das Gefühl, dass ihm Recht und Gesetz auch nur irgendeine Chance liessen, durch ihre Maschen zu schlüpfen. Zu erdrückend waren die Vorwürfe gegen ihn, ein Indizienprozess würde er verlieren.
So tat er etwas, was er sein ganzes Leben getan hatte: Der Rattenfänger von Tucson spielte. Mit der Staatsanwaltschaft. Er hatte seine Staranwälte gefeuert und einen einfachen Pflichtverteidiger akzeptiert. Diesem schlug er vor, im Gegenzug für eine 50-jährige Freiheitsstrafe Totschlag, aber keinen Mord an Alleen Rowe zu gestehen. Dass er sie mit einem schweren Stein erschlagen hatte, bestritt er nach wie vor.
Das Gericht ging auf das Angebot ein unter der Bedingung, dass er die Beamten zu Alleen Rowes Leiche führte.
Und so kam es, dass Schmid noch einmal an den Drinking Spot zurückkehrte.
Nach kurzer Suche hatte er die Reste von Rowes Skelett gefunden. Doch als die Gerichtsmediziner feststellten, dass dem Mädchen sehr wohl der Schädel eingeschlagen worden war und zwar mit dem Blut verklebten Stein, der in unmittelbarer Nähe ihrer Leiche gefunden worden war, war es zu spät. Der Deal zwischen Schmid und der Staatsanwaltschaft stand unumstößlich. Schmid hatte sich zunächst unfreiwillig, doch dann absichtlich die Todesstrafe erspart. In einem Fall zumindest.
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Statt in Nogales zu halten fahre ich weiter in die mexikanische Wüste hinein. Sie ist anders, als die Sonroa-Wüste, aus der ich komme, flacher und weitläufiger. Ich entscheide an den Pazifik oder den Golf von Kalifornien zu fahren. Ich habe immer noch keine Straßenkarte, an der Sonne kann ich mich nicht orientieren, die ist bereits untergegangen. So verfahre ich mich häufig, was ich immer dann merke, wenn ich mal wieder eine Kreuzung zum 2. oder 3. Mal passiere. Das ist komisch, es lässt mich ein paar Mal kichern. Aber das Vorankommen ist dadurch ein bisschen mühsam. Und jetzt ist es draußen völlig dunkel, ich bin müde und habe Hunger.
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An dem Abend, an dem Richie Bruns die beiden Schwestern vergraben musste, saßen er und Smitty noch lange am Drinking Spot. Sie tranken Bier und rauchten Marihuana. Schmid redete in einem fort, doch Bruns hörte nicht mehr zu. Als der Tag bereits anbrach, bat er Schmid, dieser möge ihn in Ruhe lassen. Er müsse sich über ein paar Dinge klar werden und nachdenken. Alleine. Er komme schon in die Stadt, keine Sorge.
Doch in dieser Nacht wurde Bruns sich über nichts mehr klar. Bald, nachdem Schmid gegangen war, schlief er ein, alkohol- und marihuanaberauscht. Er schlief nicht gut. Er hatte unruhige Träume, schreckte immer wieder aus ihnen auf. Irgendwann wachte er ganz auf.
Sofort war ihm klar, dass er gerade Darlenes Exekution geträumt hatte.
In der späteren Gerichtsverhandlung konnte er nicht mehr genau sagen, wodurch Darlene in seinem Traum getötet worden war, nur, dass Schmids kräftige Hände beteiligt gewesen seien. Auch gab er zu, dass er zum damaligen Zeitpunkt noch keine Beziehung mit Darlene gehabt hatte. Das sei erst passiert, als er begonnen hatte, sie vor Schmid zu schützen. Aber geliebt habe er sie damals schon. Als Schmids Verteidiger ihn fragte, ob er wegen dieses einzigen Traumes 12 Wochen vor Darlenes Haus herumgelungert habe, sagte Bruns: „Einer musste es tun.“
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Es hilft nichts, es geht nicht weiter, mein Kopf fällt immer wieder fast von seinem Hals, aufs Steuerrad. Ich ziehe in eine kleine Pension, mitten in der mexikanischen Wüste. Was ich weiß, ist, dass ich morgen einfach meinem Instinkt vertrauen muss. Sonst lande ich in Texas oder in Honduras, wenn ich nicht aufpasse. Ich weiß nicht, was schlimmer wäre.
Ich freue mich auf das Morgen, ein neues Abenteuer, das Leben, die Welt. Ja, auch auf die 1.100 Kilomter nach Los Angeles und auf das, was danach kommt.
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Vor seiner Verhaftung hatte Schmid vielen, wirklich vielen Menschen von seinen Morden erzählt. Den Mord an den beiden Schwestern hatte er in seinem Freundeskreis sogar angekündigt. Gretchen, die Ältere, besäße ein Tagebuch von ihm, in dem er seine anderen beiden Morde aufgeschrieben habe, dieses wolle er wiederhaben. Doch sie gebe es nicht mehr her, also müsse sie sterben.
Weder dieses Tagebuch wurde jemals gefunden, noch gab es Anhaltspunkte für einen vierten Mord, der in diesem Tagebuch beschrieben gewesen sein soll.
Unter Tucsons Jugendlichen kursierte jedenfalls das Gerücht, Schmid habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, oder mit der Mafia, oder der Polizei. Denn offensichtlich konnte ihm niemand etwas anhaben, da er trotz dreier Morde bereits so lange in Freiheit lebte – eine Tatsache, die seinen Ruf unter den Jugendlichen ins Unermessliche steigerte.
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Verschiedene Zeugen bestätigten unabhängig voneinander, dass Schmid tatsächlich auf der Suche nach seinem nächsten Mordopfer gewesen sei. Sie gaben an, von Schmid erfahren zu haben, dass eine Cathy, die ihn besonders geärgert hatte, eine Susan, eine Hedda, eine Terry oder eine Mary dieses Opfer gewesen sein würde.
Den Namen „Darlene“ hingegen nannte niemand.
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„I walk 47 miles of barbed wire,
I use a cobra-snake for a necktie,
I got a brand new house on the roadside,
Made from rattlesnake hide,
I got a brand new chimney made on top,
Made out of a human skull,
Now come on take a walk with me, arlene,
And tell me, who do you love?
Who do you love?
Who do you love?
Who do you love?
Who do you love?
Tombstone hand and a graveyard mine,
Just 22 and I don’t mind dying.“
Bo Didley, „Who do you love?“
Ende