Teil 5

Motel „Tucson Inn“, Schlafkoje

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Zwei Monate nach dem Neil Diamond-Konzert in Glasgow sitze ich im Flugzeug von Paris nach Los Angeles. Es ist bereits meine dritte Reise an die amerikanische Westküste innerhalb der letzten 14 Tage. Doch diesmal wird mein Aufenthalt nicht nur eine Nacht dauern, diesmal werde ich eine ganze Woche unterwegs sein. Bei der Immigrationsbehörde gebe ich als Grund für meine Einreise: „Besuch bei einem Freund“ an. Nur aus Spaß, auch wenn sich die „Beziehung“ zu Charles Schmid wirklich wie die zu einem Freund anfühlt. So vertraut bin mit ihm und seinem kurzen, heftigen Leben mittlerweile.

Kurze Zeit später sitze ich in einem Cabrio, das ich mir am Flughafen gemietet habe. Es ist ein sonniger Morgen in Kalifornien, und ich genieße das offene Verdeck, den Fahrtwind, die breiten Highways, die um diese Uhrzeit frei von Staus sind. In Berlin weiß niemand, wo ich bin, ich fühle mich wie ein Ausbrecher, dem es gelungen ist, alle Spuren zu verwischen.

Ich fahre ohne Straßenkarte, folge nur meinem Instinkt, weiß nicht einmal, wie lange die Fahrt dauern wird. Ich muss Richtung Osten fahren, das ist klar, und die Abzweigung nach Las Vegas, die gerade vor mir auftaucht, ist falsch. Das ist ebenso klar. Also fahre ich geradeaus weiter. Die Strecke ist seit geraumer Zeit einsam, bis zum Horizont besteht die Landschaft aus karger, eintöniger Wüste. Kaum ein Fahrzeug ist zu sehen. Irgendwann erreiche ich Phoenix und denke kurz darüber nach, meine Reise hier zu unterbrechen. Doch dann sehe ich einen Wegweiser: Tucson 160 Meilen. Ich bin elektrisiert und beschließe, den Höhepunkt meiner Reise auf keinen Fall länger hinauszuzögern. Ich biege ab.

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Spannung entsteht, tief in mir. Einerseits fühle ich mich unbeschwert, habe das Gefühl, der nächste Windstoß wird mich hoch in die Luft wehen. Der andere, größere Teil von mir möchte weg. So schnell wie möglich. Diesem Teil ist schlecht, er übergibt sich. Legt sich ins Gras. Der andere hingegen, der feiert und freut sich, der lacht und flötet und wundert sich über all die Gesellschaft, die Leute, lauter junge Leute, junge Mädchen, die von allen Seiten auf ihn zuströmen. Er tanzt, hebt die Mädchen hoch, wirbelt sie durch die Luft, läßt sie los und fängt sie wieder auf. Er küsst und umarmt sie und flüstert ihnen schmutzige Dinge ins Ohr. Oh, das Leben ist wunderbar.

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Als ich in Tucson ankomme, ist es Nacht. Die Fahrt hatte 10 Stunden gedauert, mittlerweile bin ich 24 Stunden unterwegs. Ich bin müde und beschließe, ins erstbeste Hotel einzuchecken. Ich kurve ein bisschen herum und halte an der nächsten Ecke vor dem „Tucson Inn“, einem Motel, das mich mit den grell erleuchteten Buchstaben seines Namens in den Bann zieht. Irgendwie wirkt es auf mich vertraut, ich meine es aus vielen amerikanischen Roadmovies zu kennen. Als der alte Mann an der Rezeption nicht einmal meinen Ausweis und auch sonst keine Sicherheit zurückbehält, fühle ich mich augenblicklich heimisch.

Ich parke meinen Wagen direkt vor dem Hotelzimmer und lasse mich Augenblicke später aufs Bett fallen. Wie wunderbar bequem dieses Land doch ist, vom Auto ins Bett. Was hatte ich eigentlich gegen Amerika, als ich noch hier wohnte? Bevor ich das Licht ausschalte, werfe ich noch einen Blick in meine Aufzeichnungen über Schmid – und erstarre. Das Haus, das er bewohnte, „Smitty’s small house“, wie seine Freunde es oft nannten, in dem er rauschende Feste feierte – und in dem er die beiden Schwestern tötete, liegt in unmittelbarer Nachbarschaft. Nur wenige Blocks entfernt.

Fortsetzung folgt.

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