Blick auf Tucson
———————-
Seit früher Kindheit stand Charles Schmid im Rampenlicht. Als kleiner Junge hatte er sich einen Sport gesucht, der von ihm Mut und Verwegenheit verlangte – und ihm gleichzeitig hohe Anerkennung garantierte. Mit Leidenschaft und Ausdauer hatte er es in kurzer Zeit am Stufenbarren und am Schwebebalken zu erstaunlichem Erfolg gebracht. Am Barren strotzten seine Übungen vor Kraftelementen, er konnte hoch in der Luft an einem beliebigen Punkt einfach innehalte, als ob für ihn die Schwerkraft aufgehoben wäre. An der Eisenstange gelangen ihm Auf- und Abschwünge aus Vorwärts- wie Rückwärtsbewegungen heraus, ganz nach Belieben. Dabei flog er über die Reckstange wie ein kleiner Vogel, und wie dieser in der Luft wechselte auch Schmid die Richtung seines Fluges völlig ansatzlos. Sein fehlerfreier Vortrag, selbst bei den schwierigsten und gewagtesten Übungen, zu schweben, in der Luft zu tanzen und dort Purzelbäume zu schlagen, glich reiner Magie.
Doch es war kein Zauber, der ihn reüssieren liess. Es war Angstfreiheit, die ihn in immer neue Höhen trieb. Er besass einen Mut und ein Draufgängertum, das ihn von allen Anderen seiner Altersklasse unterschied. Dazu besaß er solche Muskeln an seinem kleinen Körper, die es ihm leicht machten, Salti rückwärts wie vorwärts, gestreckt wie gehockt, zu fliegen und zu stehen. Aber auch die Vorfreude auf den Applaus gaben ihm den nötigen Kick, sich kopfüber vom Barren in Richtung Erde zu stürzen. Nach einem wieder einmal geglückten Abgang toste die Halle, die Zuschauer johlten vor Verzückung im Angesicht der Gefahr, der sich der junge Schmid aussetzte. Und der, so kam es ihnen vor, ganz cool und souverän, dankte ihnen die Anerkennung mit einer Zugabe, in der er die Schwierigkeit seiner Übung unaufwändig zu steigern vermochte.
Nach drei aufeinanderfolgende Landesmeisterschaften war er der erfolgreichste Jungturner, den es in Arizona je gegeben hatte. Vor oder nach seinem Tod. Die Zukunft für den Ausnahmesportler leuchtete hellrosa. Ausscheidungsturniere für Weltmeisterschaften und Olympische Spiele waren die nächsten Schritte in Schmids Karriere. Erste Plätze, Goldmedaillen, Weltrekorde standen ihm zur freien Auswahl. Eigentlich. Doch je mehr die Menschen ihn verehrten, je höher Presse und Fernsehen ihn ins Rampenlicht hievten, desto unzufriedener wurde er. Seine eigenen Erfolge begannen ihn zu langweilen. Irgendwann lachte er den Leuten ins Gesicht, die ihn frenetisch anfeuerten, förderten und unterstützten. Immer öfter schwänzte er das Training. Dann gab er den Sport auf. Da war er 14 Jahre alt.
Ich bin in Glasgow, um ein Konzert mit Neil Diamond zu filmen. Nach dem Konzert gibt es ein „Meet und Greet“, die Gelegenheit, den Sänger kennenzulernen. Am folgenden Tag findet ein Interview statt. Zurück in Berlin schneide ich das Material, am Abend wird ein dreiminütiger Beitrag im Fernsehen ausgestrahlt. Kurz darauf ist alles wieder vergessen. Es ist, als ob die Begegnung in Glasgow nie stattgefunden hätte. Ich bin bereits beim nächsten Prominenten, irgendwo anders auf der Welt. Das Interview mit dem amerikanischen Sänger ist das 100. oder 200. in den letzten 12 Monaten. Ich weiß es nicht, ich habe den Überblick verloren. Mein Leben strengt mich an, meine sozialen Kontakte leiden unter meinen ständigen Reisen. Es gibt Tage, da weiss ich morgens nicht, wo ich abends sein werde, und abends nicht, wo ich gerade bin. Paris, Madrid, oder doch auf dem Weg nach New York oder Miami.
Vor einem Jahr bin ich aus dem Ausland nach Berlin zurückgekommen. Zehn Jahre habe ich hier nicht mehr gelebt, eigentlich bräuchte ich eine Phase der Findung und der Besinnung auf mich und mein neues Leben. Stattdessen jette ich wie irre um die Welt, um Promis zu filmen und sie zu interviewen, um sie kennenzulernen, ihnen mit meinen Fragen und Gedanken gerecht zu werden, wofür ich viel Energie aufbringe. Das kostet Kraft. Ich fühle mich leer und einsam. Ich spüre, ich verliere meine Ziele und meine Bedürfnis aus den Augen: zu finden, nicht länger zu suchen. Manchmal wäre ich gerne selbst ein Star, möchte gefragt und bekümmert werden. Auch frage ich mich, warum es in meinem Leben keine Liebe gibt. Ich beneide Charles Schmid, dem alles und alle zufliegen, der einen Überfluss an Leben hat. Und an Liebe.
Ich schwebe. Ich springe von Stein zu Stein, hangele mich von Wasserlilie zu Wasserlilie. Ich bin klein, die Wiesenblumen groß, die Laubbäume gigantisch. Ich höre einen Dudelsack und Flöten und springe nach einem Luftballon, der mir zufliegt. Blätter rieseln zu Boden. Ich hüpfe, nein, ich tänzele, wie ein Frühlingslüftchen und spiele mit den Blättern. Ich schwebe wieder. Gelange auf den Gipfel eines kleinen Berges, bin alleine und bin ausser Puste. Die Kletterei raubt mir die Atemluft. Ich halte inne, bleibe stehen.
Fortsetzung folgt
© Christoph Brandl